In der Debatte über die Entscheidung des EGMR zum Burka-Verbot in Frankreich läuft einiges gerade ziemlich schief. Viele Liberale – an vorderster Stelle im Verfassungsblog selbst – empören sich geradezu über die Entscheidung, während diese andererseits im Namen der Geschlechtergleichheit von Leuten verteidigt wird, die man bislang nicht gerade als deren Vorkämpfer in Erinnerung hatte. Aber worum wird hier eigentlich gestritten, und was genau läuft hier schief?
Für eine erste Orientierung wäre vielleicht die Beobachtung hilfreich, dass es sich bei dem Burka-Verbot um einen recht eindeutigen Fall symbolischer Gesetzgebung handelt. Das wird in der Debatte erstaunlich selten gesehen, obwohl es für die Beurteilung ein ziemlich entscheidender Umstand ist. Unter symbolischen Gesetzen versteht die Rechtssoziologie seit der grundlegenden Studie von Vilhelm Aubert bekanntlich solche mit geringem oder überhaupt nicht vorhandenem regulativem, aber hohem expressivem Gehalt. Gerade dieses Inkongruenz kennzeichnet auch das Burka-Verbot: Die Zahl der möglichen Anwendungsfälle ist gering, die angedrohten Sanktionen (Besuch eines Integrationskurses, Geldbuße in geringer Höhe) haben allesamt etwas Hilfloses, und ob sie jemals verhängt werden, ist auch nicht sicher. Erst recht gilt dies für die ebenfalls in Frankreich neu eingeführte Strafbarkeit für Männer, die ihre Frauen unter den Ganzkörperschleier zwingen: Hier kann man geradezu darauf wetten, dass kein einziger Ehemann, Vater oder Bruder deshalb je verurteilt oder auch nur vor ein Gericht gezogen werden wird. Stattdessen dienen solche Vorschriften vor allem der Selbstvergewisserung in den eigenen Prinzipien und der Wertbekräftigung nach außen: Eine liberale und demokratische Gesellschaft macht in der ihr eigenen Äußerungsform des Gesetzes deutlich, wofür sie stehen will und wofür sie nicht steht. Gerade wegen dieser symbolischen Dimension des Problems streitet man auch so gern darüber: Niemanden betrifft es selber, aber alle sind sofort bereit, dagegen oder dafür auf die Barrikaden zu steigen. Und gerade bei der Burka geht es ja auch nicht um das Stück Stoff, das es der Substanz nach bloß ist, sondern um das, was ihre Träger oder auch ihre Betrachter alles damit verbinden: also um das Symbol, das sie verkörpert.
Von hier aus wäre die entscheidende Frage zunächst, ob man einen solchen symbolischen Überschuss der Gesetzgebung von vornherein für illegitim hält. Die meisten Juristen, die nur in Tatbestand und Rechtsfolge denken, sehen das so: In das Gesetz, sagen sie, zieht hier etwas Irrationales ein, es wird missbraucht für einen Zweck, für den es nicht gedacht und von seinen Wirkungen her nicht zugeschnitten ist. Andererseits können auch liberale Gesellschaften ein Bedürfnis nach normativer Selbstvergewisserung entwickeln, das sich gelegentlich in solchen Formen Bahn bricht. Es ist ja nicht so, dass sie heute alternativlos wären. Die Demokratie bekommt zunehmend Konkurrenz durch autoritäre oder halbautoritäre Systeme, die Chinesen machen uns vor, dass man mit einem Markt ohne Grundrechte wirtschaftlich ganz ordentlich vorankommen kann, und zunehmend gibt es auch Gegenentwürfe in Gestalt fundamentalistischer Heilslehren, die offenbar auch bei uns an Zulauf gewinnen. Von hier aus käme es für ein abgewogenes Urteil vielleicht eher darauf an, ob man sich mit den Werten, für die das Verbot steht, anfreunden kann oder eher nicht. Dessen Kritiker sehen darin hauptsächlich den Ausdruck einer verbreiteten Islamphobie und Fremdenfeindlichkeit, die hier ein unverdächtiges Ventil gefunden habe. Aber damit wird ausgeblendet, was hier eben auch verteidigt werden soll: die Utopie der universalen und gleichen Teilhabe aller an gesellschaftlicher Kommunikation, die Idee eines symmetrischen, offenen und entspannten Umgangs der Geschlechter miteinander, die Absage an ein archaisches Rollenverständnis, nach denen der Anblick der Frau dem eigenen Herrn und Ehemann vorbehalten ist. Und natürlich geht es auch um ein Zeichen gegen eine bestimmte Form von Ultrareligiosität, von der, seien wir ehrlich, vernünftigerweise niemand wollen kann, dass sie sich ausbreitet und ernsthafte gesellschaftliche Bedeutung gewinnt.
Man müsste dann vielleicht eher darüber streiten, ob ein Verbot der Burka wirklich das richtige Mittel ist, um diese Ziele auch zu erreichen oder dazu überhaupt etwas Positives beiträgt. Das ist in der Tat aus verschiedenen Gründen zweifelhaft. Es wäre dies aber schon keine Frage des Prinzips mehr, sondern bloß noch nach der richtigen Taktik im Umgang mit Verhaltensweisen, die man auf eine schwer zu artikulierende Weise für unerwünscht hält. Möglicherweise wäre es besser, gar nicht darüber zu reden und einfach die Augen zuzumachen: Schon die öffentliche Debatte über die Burka heizt ja die Stimmung auf und produziert alle möglichen Misstöne; je mehr man sich in den Kampf gegen die Verhüllung hineinwirft, desto mehr muslimische Frauen treibt man vielleicht aus Protest in sie hinein; man könnte statt dessen auch einfach darauf vertrauen, dass sich die Probleme von sich aus auswachsen. Auf der anderen Seite ist es auch nicht so, dass es sie gar nicht gäbe. In Frankfurt erschien jüngst eine Mitarbeiterin des Bürgeramtes nach der Hochzeit mit einem Marokkaner in Vollverschleierung zur Arbeit, bis man ihr klarmachte, dass dies in einem Bürgeramt nicht die beste Idee sei; die Universität Gießen brachte eine Studentin in mehreren nachdrücklich geführten Gesprächen dazu, die Burka zumindest in universitären Veranstaltungen oder Prüfungen abzulegen; der Bayerische VGH bestätigte unlängst die Entscheidung einer staatlichen Berufsoberschule, eine Bewerberin mit Niqab nicht als Schülerin anzunehmen. Und ganz generell scheinen die Frommen subkutan an Boden zu gewinnen. Von einigen Hamburger Schulen war unlängst zu lesen, dass sich dort unter den Schülern eine zunehmend aggressivere Form islamischer Religiosität breitmache, die auch die anderen unter Rechtfertigungsdruck setzt. Muslimische Mädchen werden hier schon einmal von ihren männlichen Mitschülern angepöbelt, wenn sie sich nach deren Auffassung zu freizügig kleiden und nicht den Regeln ihrer Religion entsprechend verhüllen. Kann eine Gesellschaft nicht – wie unvollkommen auch immer – deutlich machen, dass sie dies nicht will?
Wenn der Konflikt andererseits wesentlich auf einer symbolischen Ebene spielt, müsste man sodann weiter fragen, wie es um den Symbolgehalt der Burka konkret bestellt ist. Nach der Lektüre verschiedener Beiträge im Verfassungsblog gewinnt man geradezu den Eindruck, die Entscheidung für die Burka sei die höchste Steigerung von Individualität und Selbstverwirklichung, die sich denken lässt: als Negation aller gesellschaftlichen Besitzansprüche auf den eigenen Körper. Merkwürdigerweise sehen es die meisten eher umgekehrt. Für sie ist die Burka schlicht ein Symbol der Unfreiheit und Entrechtung, die Frauen in ein mobiles Gefängnis zwingt. Dazu steht sie für eine radikale Absage an so gut wie alle Prinzipien aufgeklärter Liberalität, auf die man sich hierzulande nach einigen Jahrhunderten mühsam verständigt hat. Das führt zu der weiteren Frage, ob eine Gesellschaft verpflichtet ist, solche Symbole im öffentlichen Raum zu tolerieren. Manche von ihnen wie der Hitlergruß sind hier verboten, auch wenn der niemanden in seinen Rechten verletzt. Dafür spielt eine Rolle, dass auch der öffentliche Raum selber wesentlich ein symbolisches Gebilde ist: als ein Ort, der allen gehört und auf dessen Nutzung jeder ein Anrecht hat. Gerade deshalb ist er aber auch von unsichtbaren Regeln durchzogen: Regeln des Taktes, der Rücksichtnahme, einer stillen Selbstbeschränkung. Die meisten Leute gehen deshalb nicht nackt auf die Straße oder tragen dort ihren Ehekrach aus. Ich meinerseits möchte nicht von allen unter die Nase gerieben bekommen, was sie von der Welt um sich herum halten, ich mache das ja umgekehrt auch nicht. Setzt sich mir in der U-Bahn jemand mit einem T-Shirt „Ausländer raus“ gegenüber, wechsele ich den Sitzplatz, und mit etwas Zivilcourage sage ich ihm auch die Meinung. Ohne dass ich recht sagen kann warum, gehört für mich auch die Burka in diese Kategorie: Ich möchte mich an den Anblick nicht gewöhnen müssen. Und man ist da noch gar nicht bei einer weitergehenden Imagination von Demokratie, die auf dem Grundgedanken beruht, dass prinzipiell alle miteinander ins Gespräch kommen können. Auch dies kann man als naiv belächeln. Aber ich begreife beim besten Willen nicht, was daran so unsympathisch sein soll.
Andererseits liegt, wie ich durchaus sehe, das Problem jeder symbolischen Gesetzgebung zuletzt darin, dass sie nie ganz auf das Symbolische beschränkt bleibt. Am Ende ist da doch immer jemand, den das Verbot ganz real und vielleicht auch hart trifft. Gerade dies ruft nun die liberalen Retter der Burka auf den Plan. Wo bleibt denn hier die Freiheit, rufen sie, steht die nicht auch den Burka-Trägerinnen zu? Ihr Gesicht gehört doch ihnen, sie müssen es niemandem zeigen! Aber dafür müsste man zunächst einmal wissen, ob wir es wirklich mit dem Resultat einer autonomen Entscheidung zu tun haben. Fälle dieser Art mag es geben: die erwachsene, mündige, ihrer selbst gewisse Frau, die sich in Kenntnis aller Konsequenzen als Ausdruck ihrer religiösen Überzeugung bewusst unter die Burka begibt. Im Verfassungsblog beherrscht sie weithin die Szene. Aber wer sich nur halbwegs den Blick für die Realitäten bewahrt hat, wird anerkennen müssen, dass es mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den anderen Fall gibt: die Frau oder das junge Mädchen, das mit welchen Mitteln auch immer von einer patriarchalischen Umgebung dazu gedrängt wird, sich den Blicken der anderen zu entziehen. Wäre dann auch deren Entscheidung zu akzeptieren? Wenn äußerer Zwang oder gar Gewalt im Spiel sind, würden die meisten wahrscheinlich sagen: nein. Aber verläuft die Grenze wirklich erst hier? Charles Taylor verdanken wir die Einsicht, dass ein Verständnis von Freiheit, das diese ausschließlich als Abwesenheit von äußerem Zwang definiert, verkürzt ist: Beschränkungen können auch aus inneren Prädispositionen des Handelnden herrühren, die verhindern, dass die in der Freiheit liegenden Möglichkeiten auch tatsächlich genutzt werden. Wer in ein bestimmtes religiöses Wertesystem hineingeboren ist und dessen Vorgaben durch Erziehung, Sozialisation oder Indoktrination verinnerlicht hat, kommt erst gar nicht auf die Idee, dass es auch anders ginge. Die inneren Zwänge sind so oft ungleich wirksamer als die äußeren. Wie frei wäre eine solche Entscheidung dann zu nennen? Und was ist überhaupt mit der Verpflichtung des liberalen Staates gegenüber jenen Frauen, die in den entsprechenden Strukturen aufwachsen, in die dazugehörigen Denkmuster hineingedrängt werden, vielleicht auch in ihren Familien einen verzweifelten Kampf dagegen führen?
Vielleicht sollte die Sorge der Liberalen aller Länder doch eher ihnen gelten.