In dem Beitrag zu Gottesdienstverboten auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes, den der Göttinger Staats- und Kirchenrechtler Hans Michael Heinig soeben auf dem Verfassungsblog veröffentlicht hat, findet sich an dort etwas versteckter Stelle ein Satz, über den sich gründlicher nachzudenken lohnt: Ungern fände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoid-hysterischen Hygienestaat verwandelt hat. Blickt man sich in der Welt um uns herum um, ist das zwar drastisch formuliert, aber als Befürchtung möglicherweise nicht übertrieben. Dabei geht es nicht darum, die Einschränkungen, denen wir alle uns derzeit ausgesetzt sehen, in ihrer grundsätzlichen Berechtigung anzuzweifeln: Die ganz überwiegende Zahl der Experten, in der Sache nun ausschließlich Virologen, hält sie für unabdingbar, die Regierungen versuchen sie – jedenfalls hierzulande – noch unter Berücksichtigung der Maßstäbe praktischer Vernunft anzuwenden, die Bevölkerung sieht ihre Notwendigkeit ein oder fügt sich jedenfalls ganz überwiegend darin. Und wie in allen diesen Fällen, in denen eine komplexe Gefahrenprognose erforderlich ist, werden wir – wenn überhaupt – erst hinterher wissen, ob wir richtig gehandelt haben, ob man viel früher oder viel härter hätte handeln müssen oder ob das Ganze nicht doch ein „Feuerwerk des Wahnsinns“ war, wie es nun andere Experten auf einer gerade in Frankfurt ausgerichteten Podiumsdiskussion behaupten. Aber wenn wir die Berechtigung der Maßnahmen unterstellen, dann deshalb, weil wir darauf hoffen, dass sie greifen und etwas bewirken, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft. Tun sie es, ist alles gut. Aber was, wenn nicht – und wenn der Zustand, der durch sie eintritt, länger und länger dauert, vielleicht ein Ende auch gar nicht absehbar ist? Dazu drei knappe, aber grundsätzliche Bemerkungen aus der Sicht der Staatstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
1. Die staatstheoretische Überlegung betrifft das Verhältnis von Normallage und Ausnahmezustand, das durch die Corona-Krise mit einer Wucht auf die Tagesordnung gesetzt ist, die sich noch vor drei oder vier Wochen so niemand hätte vorstellen können. Seitdem leben wir gefühlt im Ausnahmezustand: mit drastischen Beschränkungen des wirtschaftlichen wie des privaten Lebens, in einem Zustand von Gesellschaft, die nach und nach auf Null heruntergefahren wird. Aber er ist außerhalb von Bayern in der Bundesrepublik nirgends erklärt, und auch in Bayern, wo er als Katastrophennotstand ausgerufen ist, ist die Folge wenig mehr als eine Verschiebung und Konzentration der Zuständigkeiten zu den Spitzen der Exekutive. Ansonsten sind alle Maßnahmen, die hier getroffen worden sind, auf der Grundlage und im Rahmen des einfachen Rechts getroffen worden, das alle entsprechenden Ermächtigungen bereithält, von den Regelungen des Infektionsschutzgesetzes bis hin zur Möglichkeit polizeirechtlicher Allgemeinverfügungen zur Schließung von Spielplätzen. Was besagt das dann über dieses Verhältnis? Offenbar sind die Übergänge und auch die Grenzen fließend geworden, und ob wir im Ausnahmezustand oder in der Normallage leben, ist in vielen Fällen, wie es auch in dieser Zeitung jetzt zu lesen war, nur eine Frage der Bezeichnung.
Das verweist auf einen grundsätzlichen Wandel im gegenseitigen Verhältnis, wie er jetzt auch in einigen jüngeren, leider allesamt noch unveröffentlichten juristischen Habilitationsschriften direkt oder indirekt und ungeachtet der im Einzelnen unterschiedlichen Ansätze zum Thema gemacht worden ist. In der klassischen Sicht, wie sie exemplarisch von Carl Schmitt vertreten wurde, sind beide strikt voneinander geschieden, als zwei getrennte Reiche oder Ordnungen, die für den äußersten Gegensatz stehen: der Ausnahmezustand als Situation des Chaos, in der rechtliche Bindungen in nichts mehr gelten und die Ordnung durch souveräne Entscheidung erst wieder hergestellt werden muss, der Normalzustand als der Zustand des Rechts, in dem auf alle kleineren und auch größeren Herausforderungen mit den vorhandenen Mitteln und in den Grenzen des Rechts reagiert wird. Seitdem sind diese Mittel aber beständig ausgebaut und auf alle möglichen Situationen erstreckt worden, was man auch so formulieren kann, dass das frühere Ausnahmerecht mehr und mehr in das Recht der Normallage hineingeholt worden und in diese eingewandert ist. Der klassische Ausnahmezustand, notierte derselbe Carl Schmitt deshalb schon wenige Jahre später, ist dadurch nun etwas Altmodisches geworden.
In der jüngeren Entwicklung zielt insbesondere die Hinwendung zum Präventionsstaat, wie sie etwa seit dem Ende der 1980er Jahre von Erhard Denninger bis zu Dieter Grimm vielfältig beobachtet und diagnostiziert worden ist, darauf ab, Krisen schon weit im Vorfeld zu antizipieren, also nicht erst dann aktiv zu werden, wenn eine konkrete Gefahr besteht, sondern schon die Situation zu verhindern, aus der heraus sie womöglich irgendwann entstehen könnte. Auch für diesen Fall stehen aber die geeigneten Mittel oft schon bereit. Heute führt uns gerade die Corona-Krise vor Augen, wie weit diese Entwicklung vorangeschritten ist: Keine entfesselte Gewalt tritt uns hier vor Augen, sondern ein Verwaltungsstaat in einem Vorgang des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts, der die Lage mit seinen Mitteln in den Griff zu bekommen versucht und dabei, wie sich zeigt, ziemlich weit gehen kann. Auch in Frankreich, wo der Ausnahmezustand nun mit martialischen Worten vom Präsidenten förmlich erklärt worden ist, wird man im Übrigen bei näherem Hinsehen bemerken, dass rein rechtlich die Unterschiede im Vergleich zum Zustand davor so groß nicht sind, so wie es auch schon bei der letzten Erklärung des Ausnahmezustands durch den vorherigen Präsidenten anlässlich der Terroranschläge im Bataclan zu beobachten war.
Die Frage ist allerdings, ob uns das eher beruhigen oder beunruhigen sollte. Man bekommt, wenn man den Blick von dem gegenwärtigen Problem einmal abwendet, eine Ahnung davon, was auch in demokratischen Rechtsstaaten binnen kurzer Zeit alles möglich ist, wenn einmal die falschen Leute die Hebel der Macht – oder sagen wir es, wie es ist: die des Rechts – in die Hand bekommen. Darüber hinaus haben wir aus der Diskussion um die Ausnahmelage einiges gelernt, was in der derzeitigen Situation vielleicht von Nutzen sein kann, etwa dass diese traditionell die Stunde der Exekutive ist. Opposition wird nicht honoriert und kommt deshalb auch faktisch nicht vor; in der Stunde der Not müssen alle zusammenrücken. Umgekehrt erhält die Regierung eine Prämie, die nicht nur ihr als Institution, sondern auch denen zukommt, die sie als Personen repräsentieren; für diese wirkt sie sich, man muss es so nüchtern sagen, nicht zuletzt in künftigen Wahlchancen aus.
Diese Prämie fällt ihrerseits umso größer aus, je sichtbarer man den Willen zur Tat demonstriert; profilieren können sich letztendlich immer nur diejenigen, die die jeweils härtesten und weitergehenden Maßnahmen vorschlagen, während alle anderen als Zauderer und Zögerer alsbald unter Druck geraten. Das ist eine Eigengesetzlichkeit des politischen Wettbewerbs, von der man nur hoffen kann, dass auch und gerade die bei uns Regierenden sie in all ihrem Handeln selbstkritisch reflektieren; wir jedenfalls sollten es tun. Schließlich erzeugt das Denken in den Kategorien der Ausnahme her typischerweise eine entsprechende Rhetorik, die sich immer weiter selbst verstärkt und von der man sich vielleicht irgendwann wird fragen müssen, wie man davon wieder herunterkommt. Wenn man in einem „Krieg gegen das Virus“ steht, wie ihn der französische Präsident nun ausgerufen hat, wird man ihn am Ende so lange führen müssen, bis er gewonnen ist, koste es, was es wolle.
2. Als reale Situation bleibt die Ausnahmesituation jedenfalls im Recht der Normallage insofern präsent, als sich aus ihr auch ergibt, welche Beschränkungen hierzulande mit der Verfassung, insbesondere mit den Grundrechten vereinbar sind und welche nicht. Auch dazu haben sich eine Reihe von Juristen schon geäußert, und es ist alles so richtig wie trivial: Gleich welche Grundrechte konkret betroffen sind, wie bestimmt und konkret die gesetzlichen Regelungen gefasst sind oder wie tief die Einschränkungen in das individuelle und gesellschaftliche Leben hineinwirken – am Ende sind es immer die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und die schiere Größe der Gefahr, die auch ganz drastische Maßnahmen rechtfertigen.
Kein Verwaltungs- oder auch Verfassungsgericht würde es in der derzeitigen Situation riskieren, auch nur eine davon zu beanstanden und der Regierung im Kampf gegen die als existenziell empfundene Bedrohung in den Arm zu fallen. Dem entspricht es, dass die Frage der Verfassungsmäßigkeit solcher Maßnahmen in der öffentlichen Diskussion bislang so gut wie keine Rolle spielt, was gerade in einem Land, das sonst alle politischen Fragen gern als Verfassungsfragen behandelt, durchaus bemerkenswert ist. Natürlich mag man insbesondere im Fall einer Ausgangssperre, wie sie auch hierzulande bald drohen könnte (alle Maßnahmen, die wir in den Nachbarländern beobachten können, erreichen uns ja im Ergebnis immer nur mit einiger Verzögerung) fragen können, was diese eigentlich bewirkt und wieso es für irgendjemanden schädlich sein soll, wenn man alleine oder mit der Familie in genügendem Abstand von anderen im Park oder selbst in der Stadt spazieren geht. Auch ist es eine so tief in die persönliche Freiheit einschneidende Maßnahme, dass man sie sich so vor Ausbruch der Krise nur in China oder, sagen wir, Nordkorea vorstellen konnte.
Aber schon die erleichterte Kontrollierbarkeit und die tatsächlich bewirkte Einschränkung von Kontakt- und damit von Übertragungsmöglichkeiten dürften angesichts des bei der Eignungsprüfung traditionell angelegten großzügigen Maßstabs – am Ende scheitert daran ja nur, was evident ungeeignet ist – im Ergebnis auch sie rechtfertigen. Die entscheidende Frage bleibt allerdings, wie lange diese Rechtfertigung wirkt und wie lange an ihr festgehalten werden kann, wenn alle entsprechenden Maßnahmen nicht oder jedenfalls nicht innerhalb eines begrenzten Zeithorizonts greifen: einen Monat? Zwei oder drei Monate? Ein Jahr oder möglicherweise sogar zwei Jahre, wenn, wie es einige Virologen schon vorhersagen, im Oktober möglicherweise die nächste Welle heranrollt und bis dahin kein Impfstoff gefunden ist?
Spätestens dann werden die Fragen, die wir jetzt verdrängen, wieder auf uns zukommen, und wir werden eine Antwort darauf finden müssen. Sie werden sich praktisch stellen, weil das weitgehende Herunterfahren von Gesellschaft immer nur für begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann; irgendwann wird der Widerstand so groß, dass es nicht mehr geht. Sie stellen sich aber auch verfassungsrechtlich und hier speziell als Frage nach der weiteren Angemessenheit der entsprechenden Einschränkungen, wenn der mögliche Erfolgseintritt immer weiter in der Zukunft liegt und andererseits die sichtbaren Folgeschäden größer und größer werden. Diese betreffen die Individuen, aber sie betreffen auch die Gesellschaft insgesamt in politischer, in kultureller und – man muss dies so sagen – auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Niemand will aus dem gegenwärtigen Alptraum in einem Trümmerfeld erwachen, in dem ganze Wirtschaftszweige, eine Vielzahl von Unternehmen und massenhaft individuelle berufliche Existenzen vernichtet sind.
3. Die damit aufgeworfenen Abwägungsfragen führen hinaus aus dem Verfassungsrecht und hinüber in die Ethik oder auch Rechtsphilosophie und können nur von hier aus beantwortet werden; auch die Antworten, die wir in der Sprache des Verfassungsrechts darauf geben, sind letztlich daraus entlehnt oder müssen sich dazu verhalten. In welche Grenzbereiche es führt, wenn die Krankenhäuser an ihre Kapazitätsgrenzen geraten und Ärzte in der konkreten Situation die Entscheidung über Behandlung oder Nichtbehandlung, in der Sache also über Leben und Tod treffen müssen, zeigen uns die einschlägigen Berichte und die Bilder vor Ort; es ist dies eine Situation, die niemand wollen kann. Gleichwohl wird man, wenn sie da ist, Maßstäbe finden und verantworten müssen, nach denen die Entscheidung zu treffen ist. Ebenso wird man auch bei der generellen Abwägung, welche Maßnahmen in welcher Intensität und über welchen Zeitraum aufrechterhalten werden können, irgendwann eine Entscheidung treffen müssen, welche Interessen in sie einzubeziehen sind und welche nicht. Können es auch solche des allgemeinen Wohlstands oder eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens sein – und bis zu welchem Grade und von welchem Punkt an? Vom Standpunkt eines normativen Individualismus aus, wie wir ihn grundgesetzlich in der Garantie der Menschenwürde verankert sehen, neigen wir dazu, alle diese Interessen in existenziellen Fragen als irrelevant beiseite zu schieben; immer dort, wo es um den „Höchstwert Leben“ geht, verbietet sich, wie wir sagen, jede Verrechnung.
In der Tat spricht einiges dafür, an diesem Ausgangspunkt auf einer grundsätzlichen Ebene festzuhalten. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass wir derartige Abwägungen in vielen Fällen längst vornehmen, ohne sie uns als solche einzugestehen. So wissen wir im Grunde, dass die Zulassung des Autoverkehrs auf unseren Straßen jedes Jahr den Tod von zwischen 3000 – 4000 Menschen zur Folge hat. Diese Folge ist so kausal wie vorhersehbar, sie trifft oft die Schwächsten wie die Kinder, und wir könnten sie ohne weiteres abwenden, wenn wir Autos verbieten würden. Aber wir tun es nicht, weil ihre Produktion uns wirtschaftlichen Wohlstand garantiert, der Austausch und Transport von Gütern ermöglicht wird, wir individuelle Mobilität schätzen etc., und die Risiken des Straßenverkehrs erscheinen uns dann als, wie die Juristen sagen, „erlaubtes Risiko“ oder „sozial adäquat“.
Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten. Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang.
So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.
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