In den nächsten Wochen wird im Bundestag der gerade vorgelegte Gesetzentwurf der Ampel zur Änderung des Wahlrechts debattiert, der seinerseits weitgehend die Vorschläge der Mehrheit der vom Bundestag eingesetzten Expertenkommission umsetzt. Über Sinnhaftigkeit, Praktikabilität und – natürlich – Verfassungsmäßigkeit des Vorschlags ist bereits viel geschrieben worden, auch und gerade hier auf dem Blog. Eine andere Frage ist dagegen ausgeblendet oder immer nur am Rande gestreift worden, nämlich ob es eine gute Idee ist, Änderungen am Wahlrecht – hier träfe die Rede von der Operation am offenen Herzen der Demokratie nun wirklich einmal zu – zur Not nur mit den Stimmen der Regierungsfraktionen vorzunehmen, ohne die Opposition mit ins Boot zu holen. Die sträubt sich im vorliegenden Fall, und alle Versuche einer Einigung im Vorfeld sind gescheitert, weil die Interessen offenbar zu weit auseinanderliefen. Es ist aber, so liest man oft, eine ungeschriebene Regel der Demokratie, Wahlrechtsregelungen nur oder jedenfalls „tunlichst“ im Konsens zu treffen. Doch welchen Status hätte eine solche Regel – und was macht man, wenn Konsens nicht zu erzielen ist?
1. Warum Verfassungen Konventionen brauchen
Verfassungen entfalten ihre Wirksamkeit nicht nur über ihre geschriebenen oder ihr durch Interpretation hinzugefügten Regeln, sondern wesentlich auch durch die zahlreichen informellen und ungeschriebenen, die sie inhaltlich weiter ausfüllen und ohne die sie oft gar nicht bestehen können. Gerade der politische Betrieb kennt eine Fülle solcher Regeln, die zunächst in einem ganz elementaren Sinne die Abläufe erleichtern, weil man über die Frage, die sie beantworten, nicht immer wieder von neuem nachdenken muss. In der Bundesrepublik gehören dazu als bekannteste Fälle für den Bundesrat die – im Königsteiner Abkommen von 1950 etablierte, aber urkundlich nie richtig fixierte – Regel, dass der Präsident rollierend nach der Reihenfolge der Einwohnerzahl der Länder bestimmt wird; für den Bundestag wären es etwa die Regel, dass die jeweils stärkste Fraktion den Bundestagspräsidenten stellt, oder die weitere Regel, dass die Redezeit der an sich nach Art. 43 II 2 GG privilegierten Regierungsmitglieder auf die Redezeit der die Regierung tragenden Fraktionen angerechnet wird. Von der anderen hier lange Zeit geltenden Regel, dass alle Fraktionen mit einem Sitz im Bundestagspräsidium vertreten sein müssen, hat man sich demgegenüber nach dem Einzug der AfD verabschiedet, worin das BVerfG im Ergebnis bekanntlich kein Problem gesehen hat, jedenfalls kein verfassungsrechtliches.
Regeln dieser Art erstarken deshalb nur selten zu Recht etwa im Sinne von Verfassungsgewohnheitsrecht, von dem man bis heute ohnehin nicht recht weiß, ob es das überhaupt gibt. Aber sie sind andererseits doch auch mehr als bloße Gewohnheiten, über die man sich einfach so hinwegsetzen könnte, wenn es einem gerade in den Kram passt. Im Gegenteil nehmen, wie es in einer klassischen Behandlung als zentrales Unterscheidungsmerkmal zu einer solchen Gewohnheit herausgearbeitet worden ist, die Beteiligten zu ihnen eine spezifisch normative Einstellung ein, die es ihnen erlaubt, Abweichungen als solche kenntlich zu machen und entsprechend zu kritisieren, ebenso wie ein Schachspieler einen falschen Zug des Gegners beanstanden und als Regelverstoß zurückweisen kann. In Verfassungsordnungen wie der britischen, die ohne geschriebene Verfassung auskommen müssen, hat man für solche Regeln eine eigene Kategorie entwickelt; sie heißen dort Verfassungskonventionen (constitutional conventions) und bilden – als unterste Stufe, aber eben doch zusammen mit historischen Verfassungsdokumenten, dem Common Law und bestimmten Parlamentsgesetzen – das Gesamtgerüst dessen, was als Verfassung bezeichnet wird und in der Sache selbst nichts anderes ist als eine einzige große Konvention. Auch dort herrscht aber keine wirkliche Klarheit über Art und Reichweite ihrer Bindungswirkung, die meist in einem unklaren Zwischenreich zwischen Recht und Moral angesiedelt wird. In diesem Sinne hielt der große Albert Venn Dicey, dem sich ihre erstmalige Erfassung verdankt, daran fest, dass sie erst durch gesetzliche Fixierung unmittelbar bindende Kraft entfalten und gegebenenfalls durch einfache Abweichung auch wieder außer Kraft gesetzt werden können. Andererseits gehörten sie für ihn zu einer notwendigen „konstitutionellen Moral“ (constitutional morality), die er dann doch in einen – entsprechend erweiterten – Begriff von „constitutional law“ einbezog.
Darin spielen Unklarheiten über den maßgeblichen Rechtsbegriff ebenso eine Rolle wie solche über Eigenart und Wirkungsweise einer Verfassung. Aber der Begriff der konstitutionellen Moral bringt doch gut zum Ausdruck, worum es in der Sache geht: um Gebote der Selbstbeschränkung und Regeln guten politischen Verhaltens, so wie es sich hierzulande an der Regel, dass die Redezeit der Regierungsmitglieder nicht zu Lasten der Redezeit der Opposition gehen soll, auch gut erkennen lässt.
2. Warum auch der Konsens in Wahlrechtsfragen dazugehört
Blickt man von hier aus zurück auf die Forderung, das Wahlrecht immer nur im parteiübergreifenden Konsens zu ändern, fehlt ihr für eine Konvention im genannten Sinne offensichtlich schon das Moment des Konventionellen, im Sinne einer fraglosen Befolgung über die Zeiten hinweg. Tatsächlich wird gegen sie in vielen Staaten der Welt bis heute verstoßen und auch bei uns ist man in der Vergangenheit immer wieder von ihr abgewichen. Bereits der Umstand, dass die Entscheidung zwischen einem Verhältnis- und einem Mehrheitswahlsystem nicht im Grundgesetz, sondern im mit einfacher Mehrheit zu ändernden Bundeswahlgesetz geregelt ist, ist bekanntlich darauf zurückzuführen, dass man sich im Parlamentarischen Rat nicht auf ein Wahlsystem einigen konnte; namentlich die Auffassungen von CDU/CSU und SPD wichen hier diametral voneinander ab. Das ist auch der Grund dafür, dass es selbst für einen so radikalen Systemwechsel wie den zu einem Mehrheitswahlrecht nach der bis heute aufrechterhaltenen Auffassung des BVerfG rechtlich keiner verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit, sondern nur einer einfachen Mehrheit bedürfte, obwohl er die politische Kultur der Bundesrepublik viel grundlegender revolutionierte als die Änderung von Artikel XY irgendwo hinten in der Finanzverfassung. Auch das Wahlgesetz zum ersten Deutschen Bundestag wurde kontrovers diskutiert, das spätere Bundeswahlgesetz selbst dann immerhin gegen die Stimmen der CSU verabschiedet. In jüngerer Zeit stellte die Verabschiedung der Reform von 2011, damals allein unterstützt von der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP, in dieser Hinsicht einen Sündenfall dar, der prompt zu einer – dann auch erfolgreichen – Klage der SPD vor dem BVerfG führte. Die Wahlrechtsreform von 2020, die allerdings nur vorläufigen Charakter bis zur Erzielung einer einvernehmlichen Lösung haben sollte, wurde ebenfalls nur von der damaligen Großen Koalition – bei Lichte besehen der kleinsten, die es je gab – getragen, von Grünen, FDP und Linken aber entschieden abgelehnt.
Andererseits gibt es gute Gründe, auch dann von einer bindenden Regel zu sprechen und an ihr festzuhalten, wenn gegen sie in der Vergangenheit verstoßen wurde. Dass gerade diese ihre normative Kraft nicht verloren hat, mag man daran erkennen, dass sowohl von der anderen Seite als auch in der Öffentlichkeit immer wieder an sie erinnert wird und auch diejenigen, die von ihr abweichen wollen, dabei offensichtlich ein Störgefühl empfinden, so dass sie ihre Änderungsvorschläge vorsorglich immer erst einmal als Angebote für Verhandlungen deklarieren. Sie gehört dann aber offenbar stärker in den Bereich einer politischen Moral oder des politischen Ethos, als das bei den anderen genannten Regeln der Fall ist, die einfach nur durch gewohnheitsmäßige Befolgung wirken. Gerade das macht sie für das Funktionieren demokratischer Verfassungen eher noch wichtiger, wie sich anschaulich dort studieren lässt, wo sie und andere über längere Zeit kontinuierlich missachtet und ausgehöhlt werden: Möglicherweise ist es ja nur das feine Gewebe dieser Regeln, das die Demokratie trägt und in die Zeit hinein erhält, darin aber zugleich auch das Abgleiten in den Autoritarismus verhindert.
Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben sie deshalb in ihrem Bestseller „How Democracies Die“ als notwendige „Leitplanken der Demokratie“ (guardrails of democracy) ausgemacht und ihren sachlichen Kern durch zwei ungeschriebene Normen bestimmt, die sie gegenseitige Achtung (mutual toleration) und institutionelle Zurückhaltung (institutional forbearance) nennen. Während gegenseitige Achtung bedeutet, politische Gegner nicht als Feinde zu behandeln und anzusehen, verpflichtet institutionelle Zurückhaltung dazu, sich bei Ausübung rechtlicher Befugnisse Zügel anzulegen und bestehende Machtpositionen nicht bis zum Äußersten auszureizen. Für die Missachtung gerade dieser Regel hat sich in den Vereinigten Staaten, wo man mittlerweile einige Erfahrung damit hat, der schöne Begriff des constitutional hardball eingebürgert, als ein beständiger Tanz um die Grenzen der Verfassung, der nach und nach wie ein zerstörerisches Gift seine Wirkung entfaltet. Ein anschauliches Beispiel gerade für den Bereich des Wahlrechts liefern dort etwa die Bestrebungen der Republikaner, den Zuschnitt der Wahlkreise in den von ihnen regierten Bundesstaaten so zu verändern und den Zugang zu Wahlen so zu erschweren, dass sie künftig kaum noch verlieren können, ohne daran von einem Supreme Court gehindert zu werden, der sich in all diesen Fragen von vornherein für unzuständig erklärt hat.
Von hier aus ist leicht zu sehen, dass es gerade das Prinzip institutioneller Zurückhaltung ist, das auch einen entsprechenden Einigungszwang für das Herumschrauben am Wahlrecht begründet. Das ergibt sich aus drei einfachen Überlegungen. Zum einen verleiht Demokratie immer nur Herrschaft auf Zeit; keine Mehrheit darf ihre Position deshalb dazu ausnutzen, sich durch Änderung der Verfahrensbedingungen gegen ihren Verlust zu immunisieren. Demokratien sind, sagt eine einfache Definition, politische Ordnungen, in denen Parteien Wahlen verlieren können, und das Ziel von Leuten wie Orbán oder Erdoğan liegt genau darin, diese Möglichkeit künftig auszuschließen. Die Regeln zur Verteilung demokratischer Macht liegen zudem dem demokratischen Prozess voraus; sie gehören nicht zu den Themen, über die im Rahmen des politischen Spiels entschieden wird, sondern betreffen – wie die Verfassung selbst – die Regeln, nach denen gespielt wird. An sich müsste man deshalb vorschlagen, sie hinter einem Schleier des Nichtwissens festzulegen, der die Beteiligten von ihren eigenen Interessenstandpunkten und ihren tatsächlichen Wettbewerbschancen abschirmt. Weil das aber nicht möglich ist und jede Partei sich für jeden Vorschlag genau ausrechnen kann, was für sie am Ende herausspringt und er sie an Mandaten kostet, kommt letztlich nur die Entscheidung unter der größtmöglichen Einbindung aller in Betracht. Zuletzt mag man in einer solchen Einbindung auch ein Gebot politischer Klugheit sehen: Möglichen Verfassungsklagen wird der Wind aus den Segeln genommen, und zugleich verhindert man, dass die nächste Mehrheit die Änderung gleich wieder rückgängig macht und das Wahlrecht so zur Dauerbaustelle wird, auf der immer von Neuem herumgebastelt wird. Notorische Diskontinuität in diesem Punkt beschädigt irgendwann auch die Legitimität der Wahlen insgesamt.
3. Warum es manchmal nicht anders geht
So gesehen und gerade mit Blick auf die Beobachtungen in anderen Ländern gibt es also gute Gründe, an der Regel, Wahlrechtsänderungen nur im parteiübergreifenden Konsens zu beschließen, festzuhalten und auf ihrer prinzipiellen Einhaltung zu bestehen. Bei einem zweiten Blick ist die Lage nicht ganz so einfach. Ein Problem entsteht nämlich immer dann, wenn einerseits – wie hier mit Blick auf die Regelgröße des Bundestages – sichtbarer und allgemein anerkannter Reformbedarf besteht, eine Einigung aber nicht erzielbar ist. Das Festhalten am Einigungserfordernis privilegiert dann den defizitären Status quo und eröffnet zugleich der Minderheit, die von ihm profitiert, ein erhebliches Blockadepotential. Soll man deshalb von einer Neuregelung ganz absehen? Wer das nicht für eine sinnvolle Option hält, müsste in einem nächsten Schritt nach den Bedingungen fragen, unter denen ausnahmsweise von der Regel – wie von jeder Regel – abgewichen werden kann. Bei näherem Hinsehen wird man drei solcher Bedingungen identifizieren können; dass man die Einigung mit der Gegenseite zumindest zu suchen hat und ein einseitiges Vorgehen immer nur der letzte Notbehelf sein kann, versteht sich dabei von selbst und muss nicht eigens hervorgehoben werden.
Die erste dieser Bedingungen beträfe dann das Ausmaß der angestrebten Änderung: Je grundlegender diese ausfällt und je stärker sie sich auf die Wettbewerbssituation auswirkt, desto höher wird auch der Konsensbedarf. Blickt man auf die nun von der Ampel vorgeschlagene Reform, so hält sie sich jedenfalls von ihren Auswirkungen her ganz offensichtlich in Grenzen und fällt im Großen und Ganzen wettbewerbsneutral aus: Die Verteilung der Sitze soll sich künftig allein nach dem Verhältnis der abgegebenen Zweitstimmen richten, wogegen man objektiv kaum wird argumentieren können, jedenfalls nicht mit einem irgendeinem Argument politischer Gerechtigkeit. Dass die unter diesen Bedingungen notwendige Verrechnung mit der Zahl der gewonnenen Wahlkreise dazu führen wird, dass künftig nicht alle siegreichen Wahlkreisbewerber in den Bundestag einziehen, ist zwar ein gegenüber der bisherigen Praxis erheblicher und auch nicht kleinzuredender Einschnitt, lässt sich aber immerhin als notwendiger Preis dafür rechtfertigen, dass die gesetzliche Regelgröße des Bundestags künftig auch eingehalten wird. Vor allem lässt der Vorschlag die Verteilung der Gewichte zwischen den Parteien weitgehend unangetastet. Von der von der Union im Laufe des Verfahrens vorgeschlagenen Einführung eines Grabenwahlsystems – die Hälfte der 598 Parlamentssitze wird strikt nach den Grundsätzen der Verhältniswahl (konkret also nach dem Verhältnis der abgegeben Zweitstimmen), die andere genauso strikt nach dem Mehrheitswahlrecht verteilt (konkret also an die Sieger in den Wahlkreisen) – wird man das so nicht behaupten können, auch wenn sich dafür durchaus sachliche Gründe – etwa im Sinne einer erleichterten Mehrheitsbildung – anführen lassen; dies würde die politische Tektonik einseitig zugunsten der großen und zu Lasten der kleineren Parteien verschieben.
Eine zweite, davon zu unterscheidende Bedingung betrifft vorhandene Kontroll- und Überprüfungsmöglichkeiten. Einseitige Veränderungen des Wahlrechts erscheinen danach umso eher hinnehmbar, wenn es starke Veto-Spieler gibt, die die Einhaltung der demokratischen Spielregeln kontrollieren und eine mögliche Beschränkung des politischen Wettbewerbs gegebenenfalls verhindern oder korrigieren können. In der Bundesrepublik übernimmt diese Funktion weitgehend das Bundesverfassungsgericht, das im Gegensatz zum amerikanischen Supreme Court penibel über das Wahlrecht wacht und gerade an Beeinträchtigungen der Wahlrechtsgleichheit strenge Maßstäbe anlegt; nicht wenige machen die Pedanterie, die es dabei an den Tag gelegt hat, sogar für die Probleme mitverantwortlich, die die derzeitige Suche nach einer Reform bereitet. Das muss und kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Aber es ist nicht zu übersehen, dass das Gericht selbst dadurch in die Rolle eines Schiedsrichters im politischen Wettbewerb hineingewachsen ist, der von den Bürgern auch als ein solcher gesehen wird und dem sie ein entsprechend hohes Vertrauen entgegenbringen. Das Problem liegt hier mittlerweile eher umgekehrt gerade in dieser Pedanterie, bei der jeder Versuch einer Reform mit dem Risiko behaftet ist, dass sich irgendjemand meldet, der sie für verfassungswidrig hält.
Die dritte Bedingung schließlich ist am schwersten zu fassen; sie betrifft die politische Kultur des Landes und des politischen Systems, innerhalb dessen die Frage einer Neuregelung konkret ansteht. In einigermaßen funktionierenden Demokratien mit ausgeprägter Konsensorientierung oder jedenfalls einem vorhandenen Grundkonsens über Ziel und Richtung des Politischen scheinen ausnahmsweise Abweichungen vom Einigungserfordernis danach eher vertretbar als in Systemen mit starker politischer Polarisierung, bei der jedes Herumdoktern am Wahlrecht bei der anderen Seite weiter den Verdacht nährt, sie solle endgültig aus dem Spiel verdrängt werden. Das klingt zunächst paradox, weil gerade in Konsensdemokratien eine Einigung prinzipiell leichter möglich sein müsste als in einem von vornherein vergifteten Klima, in dem jede Form von Zusammenarbeit mit der anderen Seite als Verrat an den eigenen Überzeugungen erscheint. Auf der anderen Seite richtet die Abweichung vom Einigungserfordernis hier auch weniger Schaden an und mag man auf eine Legitimität durch Gewöhnung hoffen, wie sie sich nach und nach auch für die anfangs umstrittene Entscheidung für ein personalisiertes Verhältniswahlrecht unmittelbar bei Inkrafttreten des Grundgesetzes eingestellt hat. Konsensdemokratien profitieren zudem an dieser Stelle davon, dass sie die allermeisten der politischen Fragen von ideologischen zu pragmatischen Sachfragen herunterstufen, die dann in einem Modus technischer Problemlösung abgearbeitet werden.
Das sind, zugegeben, nur einige ungefähre Orientierungsmarken, für die natürlich auch die eigene politische Bewertung der Reform eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Insgesamt spricht dann vieles dafür, an der Forderung nach größtmöglicher Übereinstimmung festzuhalten, sie auch öffentlich auch immer wieder in Erinnerung zu rufen. Aber wenn sich eine Gruppierung dieser Übereinstimmung beharrlich verweigert und ihr selbst prinzipiell wohlgesinnte Kommentatoren bescheinigen, hier seit Jahren das eigene Wohl über das der parlamentarischen Demokratie zu stellen, muss es zur Not auch ohne gehen.