Vor etwa vier Wochen habe ich hier auf dem Blog einen kleinen Text zur Frage verfasst, ob es gegen ein Gebot der politischen Fairness und eine ungeschriebenen Regel der Demokratie verstößt, das Wahlrecht nicht in einem übergreifenden Konsens, sondern nur mit einfacher Mehrheit zu regeln. Meine Antwort war, kurz gefasst, dass es gute Gründe gibt, von einer solchen Regel auszugehen, von dieser aber ausnahmsweise abgewichen werden kann, wenn mehrere Bedingungen zusammenkommen: Zunächst muss es einen allgemein anerkannten Reformbedarf geben, man sollte sich um eine Einigung wenigstens bemüht haben und vor allem muss die vorgeschlagene Neuregelung wettbewerbsneutral ausfallen, d.h. sie darf nicht einseitig zugunsten oder zulasten einer bestimmten politischen Gruppierung in die vorgefundene Wettbewerbssituation eingreifen.
Dem damals vorliegenden Ampel-Entwurf hatte ich attestiert, sämtliche dieser Bedingungen zu erfüllen, und ihn an anderer Stelle sogar als einen wirklichen politischen Wurf bewertet. Daran kann man nach den nun vorgenommenen Änderungen, mit denen die Reform noch in dieser Woche durch den Bundestag gebracht werden soll, kaum festhalten, weil diese dazu führen könnten, dass im nächsten Deutschen Bundestag weder die Linkspartei noch die CSU vertreten sein werden. Auch wenn das nicht alle für einen Verlust halten mögen, beschert es der Reform doch ein Legitimitätsproblem, von dem man nur hoffen kann, dass es sich so nicht realisiert. Aber der Reihe nach:
1. Der ursprüngliche Entwurf der Ampel sah vor, die Gesamtzahl der Abgeordneten des Bundestages künftig auf 598 zu begrenzen und so aus der bisherigen Regelgröße nach § 1 Abs. 1 BWahlG („vorbehaltlich der sich aus diesem Gesetz ergebenden Abweichungen“) eine starre Größe zu machen. Erreicht werden sollte dies im Wesentlichen dadurch, dass sich die Verteilung der Sitze im Deutschen Bundestag künftig allein nach dem Verhältnis der für die Landeslisten der Parteien abgegebenen Stimmen (im damaligen Entwurf noch „Hauptstimmen“ genannt) richtet und in ihrem Wahlkreis siegreiche Bewerber nicht mehr automatisch, sondern nur noch dann in den Bundestag einziehen, wenn dies von dem jeweiligen Hauptstimmenanteil der Partei gedeckt ist. Unter welchen Bedingungen eine Partei überhaupt im Bundestag vertreten ist, wurde dagegen nicht geändert. Beibehalten werden sollte – jedenfalls in der Sache – insbesondere auch die Grundmandatsklausel des bisherigen § 6 Abs. 3 BWG, nach der bei der Verteilung der Sitze auf die Landesliste auch Parteien unterhalb der 5-%-Hürde berücksichtigt werden, wenn sie in mindestens drei Wahlkreisen die Mehrheit der dort abgegebenen Stimmen errungen haben. Von dieser Regelung profitiert im derzeitigen Bundestag die Linkspartei, die zwar nur 4,9 % der Stimmen erhielt, aber drei Direktmandate gewann und deshalb mit ihrem vollen Zweitstimmenanteil in den Bundestag einziehen konnte. Ihre Streichung betrifft dann sicherlich zunächst und vor allem die Linkspartei, und dies ungeachtet des Umstands, dass diese ohnehin gerade dabei ist, sich selbst zu zerlegen. Sie könnte aber demnächst auch die CSU betreffen, die, da sie nur in Bayern antritt, bei der letzten Bundestagswahl tatsächlich nur auf 5,2 % der Zweitstimmen kam.
2. Gegen die Grundmandatsklausel ließen sich schon immer sachliche und zuletzt auch verfassungsrechtliche Einwände erheben, weil in ihr selbst ja ein Gleichheitsproblem steckt: Wenn bei einer Wahl die Partei A und die Partei B jeweils 4,9 % der Zweitstimmen erhalten, die Partei A aber drei Direktmandate gewinnt, zieht diese nicht nur mit den drei Wahlkreisgewinnern, sondern mit ihrem vollen Zweitstimmenanteil in den Bundestag ein, die Partei B dagegen überhaupt nicht. Das BVerfG hat die darin liegende Ungleichbehandlung allerdings im Jahre 1997 mit der Erwägung gerechtfertigt, der Gesetzgeber habe im Gewinn dreier Direktmandate zulässigerweise ein Indiz dafür sehen können, dass die betreffende Partei besondere Anliegen aufgegriffen habe, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigten. Darüber konnte man durchaus geteilter Meinung sein. Es war allerdings konsequent, die Grundmandatsklausel bei der jetzigen Reform unangetastet zu lassen, wenn man am Ziel der Wettbewerbsneutralität – gemessen am derzeitigen Stand – festhält und politische Ergebnisveränderungen vermeiden will. So hatten es die von der Ampel benannten Sachverständigen in der entscheidenden Anhörung im Innenausschuss auch gesehen; einer hatte dies sogar ausdrücklich als „Ausdruck eines fairen Kollegialitätssinns des Ampelentwurfs“ gelobt. Im Gesetzgebungsverfahren wurde die Grundmandatsklausel aber – in einem auch für diese Parteien ziemlich eindrucksvollen Akt politischer Kurzsichtigkeit – ausgerechnet von CDU/CSU immer wieder zum Thema gemacht und aus verschiedenen argumentativen Richtungen attackiert. In einem im jetzigen Gesetzgebungsverfahren in aller Eile formulierten Beschlussantrag der CDU/CSU-Fraktion fand sich dazu der Vorschlag, die Zahl der Grundmandate, die für den Einzug in den Bundestag ausreichen, von drei auf fünf zu erhöhen. Damit hätte man die Linkspartei aus dem nächsten Bundestag herausgekickt und so per Wahlrechtsänderung womöglich ein für allemal erledigt, die CSU hingegen bliebe mit ihren über 40 bayerischen Direktmandaten auf der sicheren Seite – netter Versuch, würde man dazu heute wahrscheinlich sagen.
Der von CDU/CSU benannte Sachverständige Bernd Grzeszick hingegen wandte sich in der Anhörung vor dem Innenausschuss gegen die Grundmandatsklausel als solche und wollte aus ihrer Beibehaltung die Verfassungswidrigkeit der Reform insgesamt ableiten: Die Grundmandatsklausel habe man zwar im bisherigen Wahlrecht verfassungsrechtlich so gerade noch rechtfertigen können, mit den nun daran vorgesehenen Änderungen werde sie aber endgültig „wohl zur verfassungswidrigen Systemausnahme“ (Stellungnahme Innenausschuss, S. 9 f.). Das deckt sich mit der Stellungnahme von Fabian Michl und Johanna Mittrop hier auf dem Blog, die den ursprünglichen Entwurf als „radikal ehrliche“ Grundentscheidung für ein Verhältniswahlsystem begrüßten, es dann aber für inkonsequent hielten, die Berücksichtigung von Parteien bei der Proporzverteilung doch noch an einen – in welcher Höhe auch immer zu bemessenden – Erfolg in den Wahlkreisen anzuknüpfen. Aber das folgt einer überzogenen Vorstellung an Systemgerechtigkeit und Folgerichtigkeit, die man auch in anderen Bereichen, wo das BVerfG sie entwickelt hat, berechtigterweise kritisieren kann: Warum sollte die Rechtfertigung, die das BVerfG seinerzeit für die Grundmandatsklausel angeführt hat, nicht aus sich heraus weiterhin tragfähig sein, und zwar unabhängig davon, ob man sie in dieser Form teilte oder nicht? Der Erfolg in einer bestimmten Anzahl von Wahlkreisen spricht, vor allem wenn er sich regional konzentriert, jedenfalls für eine hinreichende Verankerung der betreffenden Partei in der Fläche, wie sie dem Sinn der Beibehaltung der Wahl in den Wahlkreisen insgesamt entspricht. So oder so war das Argument im Gesetzgebungsverfahren jedenfalls ein klassisches Eigentor, weil offenbar niemand die möglichen Folgen für das eigene Lager auch nur im Ansatz gesehen oder mitbedacht hat.
3. Ein Eigentor kann man nutzen, um das Spiel endgültig für sich zu entscheiden. Die Ampelkoalition nahm in ihrem überarbeiteten Entwurf, über den noch in dieser Woche im Bundestag entschieden werden soll, die Einwände nicht nur zum Anlass, die Gesamtzahl der Abgeordneten gegenüber den ursprünglich vorgesehenen von 598 auf nun 630 zu erhöhen (worüber sich natürlich reden lässt), sondern strich zusätzlich auch die Grundmandatsklausel. Damit ist es allerdings nicht nur mit dieser, sondern mit der Wettbewerbsneutralität der Reform insgesamt vorbei; wäre bereits der jetzige Bundestag ohne die Grundmandatsklausel gewählt, wäre die Linkspartei darin nicht vertreten. Bei einer der folgenden Bundestagswahlen ist darüber hinaus folgendes Szenario theoretisch denkbar und liegt jedenfalls nicht völlig außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit: Der Stimmenanteil der CSU in Bayern sinkt gegenüber der Wahl 2021, wo sie bundesweit gerade noch 5,2 % der Zweitstimmen erhielt, noch einmal geringfügig ab, so dass sie nun knapp unter 5 Prozent landet. Nach der klaren Regelung der §§ 4 Abs. 2 und 3 sowie 6 Abs. 1 BWahlG zieht sie dann insgesamt nicht in den Bundestag ein, weil dieser Einzug eben von der Zweitstimmendeckung abhängig ist und für diese nur Parteien berücksichtigt werden, deren bundesweites Stimmenergebnis über 5 % liegt. Das gilt selbst dann, wenn die CSU – wie 2021 – weiter alle oder fast alle 46 bayerischen Direktmandate gewinnt; diese Sitze würden stattdessen auf die anderen Parteien aufgeteilt. Nun mag man der CSU auf Bundesebene keine Träne nachweinen, vor allem nicht ihren Verkehrsministern. Aber dass in diesem Fall die politische Mehrheit eines gesamten Bundeslandes im Bundestag nicht mehr abgebildet wäre, belastete diesen mit einer legitimatorischen Hypothek, an der er nicht nur in Bayern schwer zu tragen haben dürfte. In der CSU selbst gibt man sich einstweilen sicher, dass dieser Fall schon nicht eintreten werde; der damals – auf Bayern bezogene – Zweitstimmenanteil von 31,7 % sei ein historisch niedriges Wahlergebnis gewesen. Aber wie sich historisch niedrige Wahlergebnisse nicht nur verstetigen, sondern immer noch einmal verschlechtern können, haben auch andere Volksparteien schon schmerzhaft erleben müssen. Die Überlebensversicherung der CSU auf Bundesebene ist jedenfalls erst einmal weg.
4. Macht diese mögliche Konsequenz die Streichung der Grundmandatsklausel dann schon verfassungswidrig? Das ist auf die Schnelle nicht zu sagen, weil – siehe oben – die Klausel bislang nie als in irgendeiner Weise verfassungsrechtlich geboten, sondern immer nur selbst als eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme galt, die man gegen mögliche Einwände so eben noch verteidigen konnte. Mit ihrer Streichung könnte sich dann einfach nur ein früheres Problem erledigt haben. Auf der anderen Seite ist es eine demokratische Grundanforderung, dass die politischen Präferenzen der Wähler im Parlament angemessen abgebildet werden. Zwar gilt dies seinerseits nur unter der Einschränkung der 5-%-Klausel, gegen deren Anwendung nach Auffassung des BVerfG sogar dann nichts einzuwenden sein soll, wenn sie dazu führt, dass am Ende über 15 % der Wählerstimmen für die Sitzverteilung unter den Tisch fallen. In einem Wahlsystem, das – wie das unsere in der Aufteilung der Stimmen nach Landeslisten – auch den föderalen Proporz sicherstellen soll, könnte aber auch der starken regionalen Konzentration einer Partei eine besondere Bedeutung zukommen, die sich dann in der Notwendigkeit einer hinreichenden Repräsentanz im Parlament ausdrückt. Dass man sich derzeit schwertut, den konkreten Verfassungssatz zu benennen, in dem diese Forderung aufgehoben ist, sollte die Verantwortlichen nicht in zu großer Sicherheit wiegen; das Störgefühl, das viele hier empfinden werden, hat das BVerfG jedenfalls auch schon in anderen Fällen ausgesprochen kreativ agieren lassen, und aus dem Prinzip demokratischer Repräsentation mag einem durchaus das ein oder andere Argument dafür einfallen. Hängt die Verfassungswidrigkeit dann davon ab, für wie realistisch man ein solches Szenario hält? Müsste man nicht eine Ausnahme von der Sperrklausel zumindest für den Fall zulassen, dass eine Partei in einem einzelnen Bundesland die Mehrheit der Stimmen erringt? Oder liegt das Problem, wie Michl/Mittrop andeuten, umgekehrt in der 5-%-Klausel, die aufgrund der Summation verschiedener Effekte für das neue Wahlrecht möglicherweise zu hoch angesetzt ist?
Aber auch wenn es, wofür einiges spricht, für den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit am Ende nicht reichen sollte und der Union in einem möglichen Verfahren vor dem BVerfG ihr eigenes Anrennen gegen die Grundmandatsklausel auf die Füße fällt: Ein schöner Zug war deren Streichung nicht. Vielleicht nicht einmal ein besonders kluger.