Kaum hat der Bundestag das Gesetz über die Öffnung der Ehe beschlossen, wird es schon verfassungsrechtlich diskutiert. Für die zunehmend ausgedünnte Front der strammen Konservativen ist es ein offener und eklatanter Verfassungsbruch, der historisch ganz ohne Beispiel ist. Die anderen suchen nach Wegen, das, was hier gerade passiert ist, mit der bisher vorherrschenden Auslegung der Verfassung in Einklang zu bringen. Für denjenigen, der an verfassungstheoretischen Fragen interessiert ist, ist die Sache zunächst aus anderen Gründen interessant. Wie in allen Fällen, in denen politische und weltanschauliche Grundüberzeugungen persönlichster Art im Spiel sind, lässt sich beobachten, wie die jeweilige Grundüberzeugung wie vermittelt auch immer in die juristische Argumentation zu den entsprechenden Fragen hinüberwirkt. Auf eine wundersame Weise deckt sich dann meist die persönliche Einstellung mit dem Ergebnis der juristischen Argumentation, nur dass dieses Ergebnis plötzlich einen ganz objektiven Charakter hat und die Person dahinter nicht mehr sichtbar ist. Das bin ja gar nicht ich, es ist die Verfassung! Das kann man natürlich machen, viele Juristen machen das so, und viele von diesen glauben es auch (manche sogar von sich selbst).
Nehmen wir demgegenüber, sagen wir: probehalber, einmal eine rechtsrealistische Perspektive ein, nach der das Recht hauptsächlich Vorhersagen darüber zu treffen hat, wie die Gerichte am Ende entscheiden werden. Aus einer solchen Perspektive stellt sich die Lage etwa wie folgt dar: Das Gesetz bildet den Abschluss einer jahrzehntelangen Rechtsentwicklung, die die flagrante Diskriminierung Homosexueller in der Bundesrepublik nach und nach beseitigt hat und schließlich im Jahre 2001 in die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft mündete, die diese der Ehe tendenziell annäherte. Nach dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat sich namentlich das BVerfG als aktiver Motor dieser Annäherung betätigt und jede Ungleichbehandlung, die man ihm vorgelegt hat, mit der Zuverlässigkeit und der Vorhersagbarkeit eines Uhrwerks abgeräumt; dem noch vorhandenen schmalen Rest wäre es über kurz oder lang genauso ergangen. Was die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ von der klassischen „Ehe“ unterschied, war zuletzt im Wesentlichen nur der Name, als eine letzte und bloß noch formelle Bastion, der kaum mehr ein sachlicher Inhalt entsprach.
Insgesamt hat die Bundesrepublik mit der jetzt beschlossenen Regelung den Anschluss an eine nahezu gesamteuropäische Rechtsentwicklung gefunden, die zuletzt sogar im hochkatholischen Irland zur Einführung der Ehe für alle geführt hat; selbst die im Parlament Unterlegenen schienen irgendwie zu spüren, dass die Zeit über sie hinweggegangen ist. Und wenn das BVerfG, den wenig wahrscheinlichen Fall einer einstweiligen Anordnung einmal außer Acht gelassen, dereinst über das Gesetz entscheiden wird, wird dieses selbst zwei, vielleicht drei oder mehr Jahre in Kraft gewesen sein. Tausende von gleichgeschlechtlichen Ehen werden dann geschlossen sein; man hat sich vor dem Standesamt das Jawort gegeben, sich in den Armen gelegen, gelacht und gefeiert. Die Ehe für alle ist dann gesellschaftliche Normalität. Dazu kommen Gesichtspunkte aus der gegenwärtigen personellen Besetzung des Gerichts. Herr Papier, der schon bei der Entscheidung über das Lebenspartnerschaftsgesetz in der Minderheit war, ist nicht mehr dabei, wahrscheinlich ist überhaupt kein richtiger Papier mehr dabei. Der großen Mehrheit des zuständigen Senats wird man ohne weiteres eine große Sympathie für das gesellschaftliche Anliegen unterstellen können, das hinter der Neuregelung steht und das andererseits mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung und die dazu erforderliche 2/3-Mehrheit auf unabsehbare Zeit erledigt wäre. Sagen wir es deshalb ganz offen: Dass die Ehe für alle irgendwann vor dem BVerfG scheitern wird, kann man sich nur schwer vorstellen.
Worum es dann letztlich nur gehen kann, ist, diese Entscheidung nach außen – Juristen würden wahrscheinlich sagen: methodisch – angemessen zu begründen, nämlich so, dass sie auf größtmögliche Zustimmung rechnen kann. Matthias Hong hat dazu in einem wie immer anregenden Artikel im Verfassungsblog vorgeschlagen, auf das in den Vereinigten Staaten und hier zuletzt von Jack Balkin prominent vertretene Konzept des „living originalism“ zurückzugreifen, das eine heutigen Umständen Rechnung tragende Interpretation der Verfassung gerade mit Argumenten aus ihrer Entstehungsgeschichte zu rechtfertigen versucht.
In der Sache und für den vorliegenden Fall läuft das auf die Erwägung hinaus, die Ehe im Sinne von Art. 6 GG sei vom Verfassunggeber in der Tendenz schon 1949 für alle freigegeben worden, es sei bislang nur noch niemandem aufgefallen. Darüber kann man natürlich diskutieren, es ist ja auch einfach klug und einfallsreich begründet. Auf mich wirkt es aber, wenn ich das so offen sagen darf, zuletzt doch wie ein methodischer Taschenspielertrick, der so in einem verfassungsgerichtlichen Urteil der Integrität von Rechtsprechung eher abträglich wäre und von jedem Kundigen leicht zu durchschauen ist. Und wahrscheinlich muss man dafür nicht einmal besonders kundig sein. Redlicher ist es, hier einen Fall des Verfassungswandels infolge des Wandels der Grundüberzeugungen einer Gesellschaft sowie ihrer rechtlichen Verfasstheit zu erkennen und ihn als solchen dann auch offen auszuweisen.
Dafür liegen hierzulande verschiedene theoretische Angebote und argumentative Versatzstücke bereit, die sich in die bisherige Tradition unseres Verfassungsdenkens unproblematisch fügen. Es ist einfach der selbstverständliche Sinn der Verfassung, dass sie diese Elastizität hat und dass sich ihr System fortlaufend von selbst ergänzt und wandelt, liest man schon bei Rudolf Smend. Verfassung ist keine statische Ordnung, sondern öffentlicher Prozess, hat unter dem Grundgesetz Peter Häberle sekundiert. Oder man schlägt einfach noch einmal bei Brun-Otto Bryde nach: Verfassungsentwicklung, 1982 erschienen, heute leider vergriffen, aber nach meiner unmaßgeblichen Meinung immer noch eine absolute Pflichtlektüre für jeden, der sich mit Verfassung ernsthaft beschäftigen will. Zuletzt könnte man auch darauf verweisen, dass die Auslegung der Verfassung schon immer nach bestimmten Leitbildern erfolgt ist, in denen sich bestimmte gesellschaftliche Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen bündeln und in denen dann auch ein Wandel dieser Ordnungsvorstellungen verarbeitet werden kann.
Es ist hier nicht der Raum, um die damit zusammenhängenden methodischen Fragen umfassend und auf die gründliche Weise abzuhandeln, die sie an sich verdienten; wie man das machen und sich zugleich von seiner eigenen Rechtsprechung auf eine ebenso elegante wie schlüssige Weise verabschieden kann, hat das BVerfG etwa im großen Urteil zur Parteienfinanzierung von 1992 beispielhaft vorexerziert.
Worauf es mir an dieser Stelle ankommt, ist Folgendes: Entgegen der Auffassung, die sowohl hinter den gegenwärtigen Zweifeln an der Verfassungskonformität der Neuregelung als auch hinter Vorschlägen wie dem von Matthias Hong steht, müssen wir Verfassung keineswegs als einen Schrein ewiger Wahrheiten verstehen, der alle Interpretation auf den ursprünglichen Willen des Verfassunggebers verpflichtet und Abweichung immer nur dort zulässt, wo dieser dazu gleichsam die Ermächtigung erteilt habe. Dagegen hat schon Thomas Jefferson eingewandt, aus welchem Recht eigentlich die heute Lebenden an Entscheidungen von Leuten gebunden sein sollen, die alle längst verstorben sind.
Es verkennt aber vor allem den eigentlichen Geltungsgrund der Verfassung, der nicht darin liegt, dass diese in einer mit zunehmendem Abstand immer graueren Vorzeit in einem souveränen Urakt der Rechtsetzung erlassen worden ist, wie namentlich Carl Schmitt gemeint hat. Stattdessen gilt die Verfassung kraft und aus der Anerkennung der Verfassungsgemeinschaft, die aktuell unter ihr lebt, und ihre Bindekraft bezieht sie aus der sich selbst steuernden und stabilisierenden sozialen Praxis, in der sie hier und heute zur Anwendung gebracht wird. In diese Praxis sind die Methoden der Interpretation eingelassen, und aus ihr empfangen sie den sie legitimierenden Grund.
Es gibt dementsprechend keinen normlogischen, selbstevidenten oder sonst wie zwingenden Vorrang einer prinzipiell historischen Interpretation, die die Verfassung an die Gedankenwelt der Gründergeneration zurückbindet, auf deren gnädig erteilten Dispens man dann immer hoffen muss. Stattdessen gibt es immer nur Argumente, die innerhalb der gegenwärtig bestehenden Praxis vorgebracht werden und vor ihr bestehen müssen. So könnte man als Vorzug einer historischen Interpretation anführen, dass sie Konflikte über Verfassungsfragen tendenziell entpolitisiert und vielleicht auch neutralisiert, weil die Antwort ja nur aus einem unverdächtigen Quellenmaterial gewonnen werden soll. Gerade in ideologisch tief gespaltenen Gesellschaften wie der amerikanischen mit einem in seiner Glaubwürdigkeit schon seit längerem beschädigten obersten Gericht mag das seinen guten Sinn machen. Aber das ist dann eben auch nur ein Argument aus dieser Praxis, das auf deren aktuelle Lage und Befindlichkeit bezogen ist und gegen andere Argumente (Überschätzung der Leistungsfähigkeit der Methode, Manipulationsanfälligkeit der Quellen, Gefahr der Versteinerung etc.) abgewogen werden muss.
Ein Buch wie das von Jack Balkin, auf das sich auch sonst hierzulande heute viele gern berufen, ist demgegenüber nur verständlich vor dem Hintergrund einer spezifisch amerikanischen Verfassungskultur, in der um die richtige Auslegung der Verfassung seit jeher erbittert gefochten wird. Hier stellt es den Versuch dar, eine mögliche Kompromisslinie zwischen den verfeindeten Lagern zu skizzieren und die derzeit dominierenden Originalisten mit der Vorstellung einer stärker dynamischen Verfassungsinterpretation zu versöhnen. In einer Verfassungskultur wie der unseren, die mit dieser Dynamik noch nie ein nennenswertes Problem hatte, besteht dafür weder Bedarf noch Notwendigkeit. Hier hat sich das BVerfG schon im ersten Band seiner Entscheidungen, das Grundgesetz ist gerade einmal drei Jahre alt, zu einer von ihm selbst und anderen so genannten „objektiven Methode“ bekannt, die die historische Auslegung von Anfang an auf die hinteren Plätze verweist: Sie soll, heißt es, nur noch ergänzend herangezogen werden, um entweder ein schon gefundenes Auslegungsergebnis zu bestätigen oder Zweifel zu beseitigen, die anders nicht behoben werden können. Dass sich das BVerfG davon selbst von dieser methodischen Vorgabe immer wieder gelöst hat und in zahlreichen Fällen fast ausschließlich historisch argumentiert hat, steht auf einem anderen Blatt. Es trägt aber umgekehrt selbst wieder zu jener Flexibilisierung und Dynamisierung der Verfassung bei, die dann natürlich auch ihrerseits wieder eingefangen und begrenzt werden muss. Aber das Einfangen dieser Flexibilität ist etwas anderes als die Vorstellung, wir müssten uns bei allem, was wir mit der Verfassung machen, immer erst bei deren Vätern und Müttern rückversichern, ob sie dies wohl auch billigen könnten oder wenigstens ein Auge zudrückten.
Das Grundgesetz, um es auf eine ganz schlichte Formel zu bringen, ist nicht dazu da, die Probleme zu lösen, die man 1949 gehabt hat, schon gar nicht auf der Grundlage von der Geschichte ganz überholter Moralvorstellungen. Sondern es ist dazu da, uns bei der Suche nach Antworten auf die Fragen zu helfen, die uns hier und heute bewegen. Bekennen wir uns doch einfach dazu.