Die Debatte um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ehe für alle nimmt schneller Fahrt auf, als man mit dem Schreiben nachkommt. Mittlerweile ist es, wenn man die Spannbreite der Äußerungen einigermaßen zu überblicken versucht, fast so, als ob es niemanden mehr gäbe, der einem Verfahren vor dem BVerfG noch hinreichende Erfolgsaussicht bescheinigen mag; selbst wer eigene Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung hegt, versieht sie meist mit dem Zusatz, dass man das in das Karlsruhe wahrscheinlich anders sehen werde. Das ist fast auch wieder schade, weil es am Ende dazu führen könnte, dass es niemanden mehr geben wird, der den Fall dort vorlegt, weil er nur riskiert, sich eine Abfuhr einzuholen; erfahrungsgemäß macht sich das ja im politischen Betrieb nicht gut. Auf diese Weise würde zwar die Ehe für alle erst einmal weiterbestehen können und nach und nach auch gesellschaftliche Realität werden. Aber es bliebe doch immer ein Restzweifel, der auf dem ganzen Institut lastete.
Es ist deshalb gut, dass weiterhin über den richtigen und sinnvollen Weg gestritten wird, dieses offenbar weithin als richtig erkannte Ergebnis mit der bisher vorherrschenden Interpretation der Verfassung in Einklang zu bringen. Der dazu von mir im Verfassungsblog unterbreitete Vorschlag, hier einen Fall legitimen Verfassungswandels zu erkennen, ist an verschiedenen Stellen aufgegriffen oder auch eigenständig in die Diskussion eingebracht worden. Er drängt sich ja in der Tat auf und ist letztlich so unoriginell, dass ich dafür kein Copyright beanspruchen kann; in der Kommentierung des Art. 6 von Frauke Brosius-Gersdorf im „Dreier“ konnte man dazu schon vor der jetzigen Entscheidung viel Richtiges nachlesen. Patrick Bahners hat nunmehr in der FAZ versucht, auch die bisherige Rechtsprechung des BVerfG so zu lesen, dass in ihr die Öffnung der Ehe insgeheim schon angelegt sei, und dazu eine interessante ältere Kammerentscheidung (aus dem Jahre 1993) unter Beteiligung von Roman Herzog ausgegraben. Auch das lässt sich hören, aber das Problem ist natürlich, wie Bahners am Ende auch selbst sieht, dass das BVerfG es 2002 in seiner grundlegenden Entscheidung zur eingetragenen Lebenspartnerschaft zuletzt doch anders gesagt hatte. Gerechtfertigt hatte es deren Einführung seinerzeit im Kern damit, dass der Gesetzgeber gerade nicht die Ehe, sondern ein aliud geregelt habe.
Eine zweite Strategie, die Matthias Jestaedt nun in der FAZ (nicht unbedingt nahegelegt, aber doch:) als eine mögliche vorgezeichnet und ähnlich zuvor auch schon von Christoph Möllers angedeutet worden ist, zielt auf eine Entkoppelung des verfassungsrechtlichen vom einfachgesetzlichen Ehebegriff. Der Gesetzgeber, sagt man dann, habe zwar nun auf der einfachgesetzlichen Ebene, nämlich im Bürgerlichen Gesetzbuch, die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften geöffnet, aber der verfassungsrechtliche Ehebegriff werde davon gar nicht berührt. Ehe im Grundgesetz sei vielmehr, entsprechend der Auslegung im Sinne des Savignyschen Viererkanons, weiterhin die Ehe zwischen Mann und Frau, unabhängig davon, was dazu gerade im Bürgerlichen Gesetzbuch steht. Man hat dann gewissermaßen zwei Ehebegriffe im Recht, die gar nichts miteinander zu tun haben und sich dementsprechend auch nicht ins Gehege geraten können.
Auch das kann man natürlich machen, bei anderen Grundrechten wie etwa der Eigentumsgarantie gibt es das ja auch: Eigentum im Sinne des Art. 14 GG ist ja auch nicht (bloß) das Sacheigentum im Sinne von § 903 BGB. Es erscheint mir aber in der Sache ähnlich gekünstelt wie der Versuch, die Öffnung der Ehe für alle nun gerade aus einer historischen Auslegung des Grundgesetzes zu rechtfertigen. Ehe ist kein ausschließlich soziales Phänomen, sondern zunächst und vor allem einmal ein Konstrukt des Rechts. Wenn zwei Leute sich abends bei Kerzenschein in die Augen versprechen, dass sie den Rest ihres Lebens zusammen verbringen wollen, besteht zwischen ihnen noch keine Ehe, auch wenn sie einen gemeinsamen Hausstand gründen oder Kinder in die Welt setzen. Sondern die Ehe entsteht erst durch einen Akt der rechtlichen Anerkennung, der sie als ein Rechtsverhältnis mit wechselseitigen Rechten und Pflichten zur Entstehung bringt und dann selber wieder nur durch einen Akt des Rechts aufgelöst werden kann. Es gibt deshalb keine Ehe vor- und außerhalb des Rechts (hier in Gestalt des einfachen Gesetzesrechts), sondern nur im Recht und als ein vom Recht formal wie inhaltlich ausgeformtes Institut.
Wir bringen das meist unter die geläufige und allseits akzeptierte Formulierung, dass das Grundrecht auf besonderen Schutz der Ehe – im Unterschied zur „Familie“ als primär soziales Phänomen – ein „normgeprägtes Grundrecht“ ist. Über die Konsequenzen dieser Einordnung scheint aber nicht immer die notwendige Klarheit zu bestehen, jedenfalls nicht darüber, was sie in ihrem tiefsten Grund bedeutet. Es ist dann der Gesetzgeber, der in seinen rechtlichen Regelungen nicht nur sagt, wie und unter welchen Voraussetzungen eine Ehe geschlossen werden kann (und unter welchen nicht), sondern der in alledem zugleich bestimmt und festlegt, was eine Ehe ist. Man kann dann darüber diskutieren, ob und inwieweit der Gesetzgeber damit an ein bestimmtes Bild der Ehe oder vielleicht auch einen allgemeinen Sprachgebrauch gebunden ist. Aber wie das Bild, so ist auch dieser Sprachgebrauch wandelbar, und beides wird selbst seinerseits wesentlich vom Recht mitbestimmt und mitgeformt. Einfaches Recht und Verfassung stehen hier notwendig in Wechselwirkung, und auch die Verfassung empfängt ihre Impulse aus dem einfachen Recht.
Wenn der Gesetzgeber in diesem Sinne die Ehe für alle öffnet, kann das dementsprechend den verfassungsrechtlichen Ehebegriff nicht unberührt lassen. Alles andere wäre nicht nur für die Ehe für alle als eine politische Errungenschaft, sondern auch für das Grundgesetz selbst ausgesprochen unglücklich. Verfassungen sind, das kann man bei Konrad Hesse nachlesen (macht leider heute auch keiner mehr), so zu interpretieren, dass sie die Gesellschaft möglichst integrieren und zugleich größtmögliche Wirkungskraft innerhalb dieser Gesellschaft entfalten. Wenn man demgegenüber den Verfassungsbegriff der Ehe von seiner einfachgesetzlichen Ausgestaltung abkoppelte, hätten wir die Ehe im Sinne des bürgerlichen Rechts wie auch aller anderen Teilrechtsordnungen (Beamtenrecht, Steuerrecht, Sozialrecht etc.), in denen verschieden- und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in allen Belangen völlig gleich behandelt werden, und wir hätten die Ehe im Sinne von Art. 6 GG, in dem dieser ganze Teil des Rechts nicht mehr abgebildet wäre. Auch eigenständige Wirkungen in Abgrenzung zur gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft gingen davon nicht mehr aus; welche sollten das sein, wenn, wie das BVerfG meint, beide ohnehin nach Art. 3 I GG gleichzubehandeln sind? Der Verfassungsbegriff der Ehe bestünde auf diese Weise zwar in seiner ursprünglichen – wie seine Verfechter offenbar meinen: – Reinheit fort, aber ihm entspräche weder eine rechtliche noch eine sonstige Realität; stattdessen wäre er nur noch der versteinerte Ausgangspunkt einer Entwicklung, die sich längst von ihm gelöst hat. Auch der allgemeine Sprachgebrauch wird, wie es jetzt schon zu beobachten ist, über ihn irgendwann ganz hinweggegangen sein. Je länger diese Entwicklung voranschreitet, desto mehr wirkt er dann nur noch wie ein Relikt, das aus der Zeit gefallen ist.
Welche Folgen dies für die anderen Regeln und Aussagen der Verfassung hätte, mag man sich lieber nicht vorstellen und wird von denen, die sich an dem Eingeständnis oder besser der Erkenntnis eines Verfassungswandels vorbeizuwinden versuchen, geflissentlich ignoriert. Die Geltungskraft einer Verfassung kann eben nicht nur dadurch beschädigt werden, dass man ihre Bestimmungen (und natürlich: fallweise und behutsam) an die gesellschaftliche Realität anpasst, sondern auch dadurch, dass sie den Kontakt zu dieser Realität verliert. Und es bleibt zuletzt die Frage, wo überhaupt das Problem ist, dem mit solchen Spitzfindigkeiten beigekommen werden soll. Natürlich ist die Verfassung nicht beliebig wandelbar, natürlich müssen dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels auf die Verfassungsinterpretation auch Grenzen gesetzt werden, und man kann auch zwischen verschiedenen Zonen einer Verfassung unterscheiden, in denen er möglicherweise eher hinzunehmen ist als in anderen. So kann man gute Gründe dafür finden, Verfassungen etwa dort enger zu interpretieren, wo Kompetenzen und Verfahren betroffen sind oder wo die individuelle Freiheit vor Übergriffen des Staates geschützt werden soll. Um nichts davon geht es hier. Statt dessen geht es um den Bereich der Grundrechte, in dem es vor allem die Bürger selbst sind, die darüber entscheiden, wie sie ihre Freiheit leben wollen, und die diese Freiheit darin eben auch inhaltlich ausgestalten. Gerade hier sollen (und können) Verfassungen sozialen Wandel nicht ausschließen, sondern ihn ermöglichen und allenfalls so verlangsamen, dass er für alle erträglich bleibt. Sie sollen auch nicht bestimmte kulturelle Prägungen der Gesellschaft garantieren und fortschreiben; die einzige Kultur, auf deren Verdauerung eine Verfassung zielt, ist eine Kultur der Freiheit, deren Mitglieder sich wechselseitig als Rechtspersonen mit gleicher Würde anerkennen und respektieren. Aber wessen Freiheit wäre durch die Einführung der Ehe ernsthaft beeinträchtigt, und wer wird denn hier überhaupt in irgendwelchen relevanten Interessen berührt, die durch eine Verfassung legitimerweise zu schützen wären?
Die Vermutung ist: Da wird sich wenig finden.